Beitragsbild: Ryan Pfluger
Seit ihrem letzten Werk »Are We There« war Sharon van Etten alles andere als untätig: Sie ist zurück ans College gegangen, hat in einer Netflix-Serie mitgespielt und Filmmusik komponiert. Und sie ist Mutter geworden. Nun kehrt sie mit ihrem neuen Album »Remind Me Tomorrow« zurück.
Nachdem Sharon van Etten monatelang mit ihrem letzten Album »Are We There« unterwegs war, erreichte sie im Jahr 2015 einen Punkt, an dem sie genug von dem unsteten Leben als Musikerin auf Tour hatte und sich für eine Weile lieber auf ein alltägliches Leben in New York konzentrieren wollte, das sie in den letzten Jahren sehr vernachlässigt hatte. Daher beschloss sie eine Pause auf unbestimmte Zeit einzulegen. Sie ging zurück ans College und studierte Psychologie. Ihr Interesse an dem Fach wurde bereits mit Anfang 20 geweckt. »Ich hatte damals eine Therapeutin, die mir half zu verstehen, was meine Musik für mich bedeutet. Sie brachte mir bei, wie ich Musik als Therapie nutze, um meine Gefühle leichter auszudrücken. Sie hat mich auch ermutigt nach New York zu gehen.« Die Entscheidung, Psychologie zu studieren fiel, als Sharon auf Tour nach ihren Shows am Merch-Stand ihre Fans traf, die ihr erzählten, wie sie sich mit ihrer Musik verbunden fühlen. »Meine Fans erzählten mir sehr persönliche Dinge, die ihnen passiert sind, und dass meine Musik ihnen geholfen hat, diese Dinge durchzustehen. Ich habe all diese Geschichten mitgenommen und die ganze Zeit darüber nachgedacht. Ich habe mich gefragt, warum sie sich so sehr mit meinen Songs verbunden fühlen und warum ich solche Songs schreibe. Mir wurde klar, dass ich es verstehen wollte. Ich fühlte mich für die Leute verantwortlich, die mich um Rat fragten und ich wünschte, ich könnte einige von ihnen anrufen oder bei ihnen vorbeischauen und sehen, wie es ihnen geht« erklärt sie.
Kurz nachdem sie sich am Brooklyn College eingeschrieben hatte, erhielt Sharon einen Anruf eines Casting-Agenten, der sie auf der Nick Cave-Tour gesehen hatte, wo sie 2013 im Vorprogramm aufgetreten war. Er bot ihr eine Nebenrolle in der Netflix-Serie »The OA« an. Sharon nahm an, weil sie erstaunliche Parallelen zu der von ihr verkörperten Rachel entdeckte: »Sie wuchs in Geborgenheit auf, wie ich, und ging von zu Hause weg, um Musik zu machen, was ich auch tat. Und dann passierten all diese schrecklichen Dinge. Aber sie hatte ihre Stimme, die ihr eine Art Superkraft bescherte. Und ich habe in gewisser Weise auch das Gefühl, dass meine Stimme meine Superkraft ist. Wenn ich nicht singen würde, weiß ich nicht, ob ich heute hier wäre.« Auf »The OA« folgte gleich die nächste Rolle, diesmal ein Gastauftritt in David Lynchs »Twin Peaks«, wo sie ein Konzert in der legendären Bang Bang Bar spielte.
Ein weiteres Ereignis in Sharons Leben hatte ebenfalls seinen Ursprung auf besagter Nick Cave-Tour. Sie verliebte sich in ihren Schlagzeuger Zeke Hutchins, der sie auf der Tour begleitete. Heute ist er ihr Lebensgefährte, Manager und der Vater ihres inzwischen zweijährigen Sohnes.
Als Sharon das Angebot bekam, die Filmmusik zu Katherine Dieckmanns »Strange Weather« zu komponieren, erwachte ihre musikalische Kreativität wieder. Während der Zusammenarbeit entstand eine Freundschaft zwischen Sharon und Katherine. Bei der Premiere des Films, wusste Sharon, dass sie schwanger war und erzählte es Katherine. »Wir haben uns umarmt und beide geweint.« Sie vertraute ihr auch an, dass sie Angst und Zweifel habe, wie sie das alles unter einen Hut kriegen solle. Katherine holte daraufhin ihr Smartphone aus ihrer Tasche und zeigte Sharon ein Foto von ihren eigenen Kinder, als sie noch klein waren. »Ich habe sie schon immer dafür bewundert, wie sie es schafft, ihren Beruf und ihre Familie so wunderbar und ausbalanciert unter einen Hut zu kriegen. Sie zeigte mir dieses Foto und sagte: ›Du wirst es schaffen, Sharon.‹ Das hat mich beruhigt und machte mir Mut.« Das Foto ist nun das Cover von »Remind Me Tomorrow«.
Die Arbeit an Katherine Dieckmanns Film gab Sharon auch den Impuls, die Gitarre in die Ecke zu stellen und stattdessen mit Tasteninstrumenten wie Orgel, Klavier und Synthesizer zu experimentieren. »Die Gitarre hat mich gelangweilt und ich hatte das Gefühl, dass sie mich blockiert.« Zu diesem Zeitpunkt teilte sie sich gerade einen Proberaum mit dem Schauspieler und Musiker Michael Cera, der einen Jupiter 4-Synthesizer, eine Hammondorgel und einen Drumcomputer hatte. »Ich habe angefangen, auf dem Synthesizer herumzuspielen, ohne vorher eine Vorstellung davon zu haben, wie es sich anhört und ohne dass mich jemand beobachtete. Ich schloss die Instrumente an Verstärker an und nahm ein paar coole Loops und Sounds auf. Es war einfach nur zum Spaß und um meinen Kopf freizubekommen. Dann legte ich die Demos in einen Ordner und dachte nicht mehr darüber nach.« Bis eines Abends ihr Partner sie drängte, ihm ihre Tracks vorzuspielen. »Ich hatte 40 Demos und ich spielte sie meinem Partner vor. Er war begeistert und sagte: ›Ich glaube du hast da ein neues Album geschrieben.‹« Ihr war bis zu diesem Moment nie der Gedanke gekommen, diese Songs zu veröffentlichen. Schließlich überzeugte er sie davon, es zu machen.
Wenn ihr Kind ein Nickerchen machte, setzte Sharon ihre Kopfhörer auf, hörte sich die Demos an und schrieb die Texte dazu. Dabei betrachtete sie ihren schlafenden Sohn. »Ich erinnere mich, wie ich den Refrain von ›Memorial Day‹ hörte und ihn ansah. Ich hatte dabei ein Bild im Kopf wie er in die Ferne läuft. Und ich habe über all die Dinge nachgedacht, die mein Sohn tun wird. Es war wie ein Projektor in meinem Kopf.«
Freunde stellten dann den Kontakt zu dem Produzenten John Congleton her, der bekannt ist für seine Arbeit mit St. Vincent, John Grant und Angel Olsen. Bei ihrem ersten Treffen fragte er Sharon nach ihren Einflüssen für das neue Album. »Als ich ihm sagte Portishead, Suicide und Nick Caves ›Skeleton Tree‹ war er sehr begeistert. Er hatte sofort ganz viele Ideen.« John Congleton schien der geeignete Mann für ihre musikalische Neuausrichtung zu sein. Zum ersten Mal gab sie die Kontrolle über die Produktion komplett ab und vertraute ihre Songs einem Produzenten an. Er half ihr dabei, den charakteristischen Sharon van Etten-Sound zu verändern und entwickelte aus Sharons Originaldemos einen passenden Entwurf. »Ich wollte, dass die Songs eine Reflexion dessen sind, wo ich in meinem Leben stehe und wie glücklich ich bin. Aber gleichzeitig wollte ich Dinge, die draußen in der Welt passieren, nicht völlig ausblenden. Besonders durch die Augen einer Mutter betrachtet, die das Beste für ihren Sohn möchte. Du musst ein positives Vorbild sein und ihm das Gefühl geben, dass er sich sicher fühlt, auch wenn die Welt da draußen im Moment beschissen ist. Vieles davon spiegelt sich in der Instrumentierung der Platte wider.« erklärt Sharon.
Heute scheint Sharon van Etten eine andere zu sein und glücklich mit ihrem neuen Leben. Sie plant in diesem Jahr mit ihrer kleinen Familie New York den Rücken zu kehren und nach Los Angeles umzuziehen. »Ich mag New York sehr, aber ich kann es mir einfach nicht mehr leisten hier zu wohnen. Wir wohnen in einer 1-Zimmer-Wohnung mit dem Baby. Die einzigen Orte, wo wir uns hier eine 2-Zimmer-Wohnung leisten können, sind so weit draußen, dass man nicht mal mehr das Gefühl hat, in New York zu sein.« sagt sie. »Wir haben festgestellt, dass man für das Geld, das man in New York für eine Wohnung bezahlt, in Los Angeles ein ganzes Haus bekommt. Und die Stadt ist auch sehr kreativ und sehr einladend für Musiker und Künstler. Ich bin es leid, mir den Arsch aufzureißen und mich trotzdem nur gerade so über Wasser halten zu können. Deshalb werden wir dieses Jahr nach Los Angeles ziehen.« Und obwohl sie wahrscheinlich vor 2020 keine Zeit haben wird, wieder ans College zu gehen, um ihr Psychologie-Studium fortzusetzen, fügt Sharon hinzu, dass sie an ihrem Plan festhalte, mit 50 als Therapeutin zu arbeiten.